Arktis: Spitzbergen am Rande der Welt

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Nach meiner Reise in die Philippinen im Dezember war ich für Fernsehprojekte in Frankreich, Tunesien und Dänemark unterwegs. Doch meistens berichte ich nicht über die beruflichen Auslandsreisen, weil ich in der Regel ein ganz bestimmtes Reiseziel bzw. Thema habe und sonst vom Land nicht ganz so viel sehe. In Tunesien habe ich mich beispielsweise tagelang ausschließlich auf vertrockneten Olivenfarmen in der Wüste aufgehalten – herausgekommen ist dieser schöne Film ZDF Plan B: Steter Tropfen. Nun war ich eine Woche lang für ARTE im hohen Norden unterwegs. Das Reiseziel: die Insel Spitzbergen, die mitten in der Arktis liegt und die nördlichste Siedlung der Menschheit beheimatet. Im Gegensatz zu anderen Drehs habe ich hier sehr vielseitige und umfangreiche Einblicke in das Inselleben und die faszinierende Natur bekommen, die ich euch nicht vorenthalten möchte.

Spitzbergen gehört zu Norwegen, liegt aber rund 600 Kilometer über dem nördlichsten Punkt des Festlandes. Entdeckt wurde die Insel offiziell 1596 von dem Niederländer Willem Barentsz. Möglicherweise waren Jäger aus dem Norden Russlands, die Pomoren, aber noch viel früher hier. Erst 1920 wurde die Insel den Norwegern zugesprochen, obwohl sich schon vorher Siedlungen verschiedener Länder gebildet hatten. Es gab hauptsächlich russische und norwegische Orte, die als Basisstation für Fischfang, Forschung und für den Bergbau genutzt wurden. Weil hier Menschen aus verschiedenen Ländern lebten, gibt es für die Insel einige Sonderregelungen, festgehalten im Spitzbergenvertrag: Bürger aller unterzeichnender Staaten dürfen hier wohnen und die Insel wirtschaftlich nutzen. Spitzbergen ist demilitarisierte Zone, das heißt, dass kein Land einschließlich Norwegen hier dauerhaft Militär stationieren darf.

Heute gibt es auf der Insel noch zwei größere Orte: die norwegisch geprägte Stadt Longyearbyen mit rund 2000 Einwohnern und die russische Stadt Barentsburg mit 300 Einwohnern. Auf der Insel liegen weitere Geisterorte, ehemalige Kohleminen wie Grumant oder Pyramiden, die vor Jahren verlassen wurden. Für ARTE drehten wir hier eine Reportage über die Lebensweise verschiedener Menschen am Rande der Welt, geprägt von Isolation und den Spannungen, die sich ergeben können, wenn eine russische und eine norwegische Siedlung fast nebeneinander liegen. Über die Protagonisten und die Handlung werde ich hier noch nichts verraten, doch meine Erlebnisse im Rahmen der Reise möchte ich schildern.

Mit dem Flugzeug haben wir Longyearbyean angesteuert. Schon der Blick aus dem Fenster zeigt, wie die Insel zu ihrem Namen kam. Durch die dichten Wolken ragten die spitzen Gipfel unzähliger Berge, dazwischen Gletscher. Weil aber auch in der Arktis aktuell Sommer ist, sind die Täler bei rund 5 bis 10 Grad schneefrei, bis der Herbst einsetzt.

Von Longyearbyen aus reisten wir noch am gleichen Abend nach Barentsburg. Der Ort ist zwar nur 55 Kilometer entfernt, doch durch das unwegsame Gelände führt keine Straße. Die Russen aus Barentsburg holten uns mit einem RIB (Rigid Inflatable Boat) ab. Es handelt sich um ein Schlauchboot aus Kunststoff, das sehr schnell, stabil und wendig ist. Es ist das typische Fortbewegungsmittel in der Arktis. Weil es kein Dach hat, trägt man wasserdichte Anzüge. Die schützen vor dem eisigen Wind und den Wellen, die über das Deck schlagen, während man über den Fjord rast. Nach rund 1,5 Stunden halsbrecherischer Fahrt erreichten wir Barentsburg. Schon vom Boot aus offenbarte sich mir eine Kulisse, die an Postapokalyptik und Steam Punk erinnert. Auf den ersten Blick fällt eine mehrere hundert Meter breite Kohlehalde auf. Daneben ein Kran, der die Steinkohle wohl gelegentlich in Schiffe verlädt. In zweiter Reihe stehen alte Häuser, nicht mehr bewohnt und halb eingestürzt. Wie ich später erfuhr, sind das die Häuser der ersten Siedler der Stadt. Dahinter drängen sich ein paar weitere, große Gebäude: drei Wohnblöcke für rund 300 Bewohner, der oberirdische Teil der Kohlemiene, ein Hotel, eine Forschungsstation und ein riesiges Kultur- und Sportzentrum. Dazwischen liegen kleine Häuser wie die Post und das Restaurant zum roten Bären. Am Rande der Stadt befindet sich ein Kohlekraftwerk, das permanent schwarzen Rauch in den Himmel pustet. Der ganze Ort klammert sich an den steilen Hang einer abfallenden Klippe. Auf den ersten Blick wirkt der Ort unordentlich und vernachlässigt, doch nach wenigen Stunden lässt sich der Character des Ortes besser verstehen. Im Vordergrund steht die Zweckmäßigkeit: die Mine, das Kohlelager, das Kraftwerk und eine verbeulte Eisenbahn, die in alten, rostigen Anhängern die Steinkohle transportiert. Diese historischen Anlagen werden weiterhin betrieben und geben dem Ort überhaupt erst seine Daseinsberechtigung. Die Wohnhäuser und das Hotel sind Beiwerk – Notwendigkeit für das Leben in einer Kohlemine. Interessanterweise sind viele Anlagen offensichtlich dutzende Jahre alt. Besonders auffällig ist die in die Jahre gekommene Bergwerkstechnik. Im Stollen verwendet man beispielsweise noch Telefone mit Drehscheiben und rund drei Kilo schweren Sprechmuscheln aus Metall. Nach kurzer Zeit habe ich mich in Barentsburg sehr wohl gefühlt. Der anfänglich kalte Eindruck der Stadt wich schnell dem Verständnis, dass wir hier in einer funktionierenden Kohlemine leben. In einem solchen Ort gibt es natürlich viel zu entdecken, was mich schnell begeisterte.

In den nächsten Tagen filmten wir verschiedene Aspekte des Lebens in Barentsburg. Wir begleiteten einen Arbeiter in den oberen Teil der Mine. Er ist Elektriker und kümmert sich um die Instandhaltung der alten Technik. Leider durften wir aus Sicherheitsgründen nicht in die tieferen Schächte fahren. Normalerweise lassen sich die Arbeiter jeden Tag von einem kleinen Lift tief in den Berg tragen. Doch für Besucher ist das zu gefährlich, gerade auch weil die Kohlemine in Barentsburg nicht modernisiert ist. Vor zehn Jahren starben zwei Personen bei einem Grubenunglück. Trotzdem: auch der Einblick in den oberen Teil der Mine war sehr interessant.

Das zweite Standbein des Ortes ist der Tourismus. Wir begleiteten eine Touristenführerin bei ihrer Arbeit. Mit dem RIB fuhren wir über den Fjord zum Esmark-Gletscher. Er ist 15 Kilometer lang und schiebt gewaltige Eismassen ins Meer hinein. Mit dem Boot erreicht man die rund 25 Meter hohe Abbruchkante. Nach wenigen Minuten schon konnten wir beobachten, wie ein großer Eisblock herausbrach und ins Meer stürzte. Es klang wie eine Explosion. Vor elf Jahren wurde eine Touristin von einem solchen Eisblock erschlagen.

Anschließend gingen wir an Land und wanderten für ein paar Stunden durch die arktische Tundra. Im Sommer sind die Ebenen am Meer schneefrei. Hier trifft man auch auf große Herden von Rentieren, außerdem vereinzelt auf Polarfüchse, vor deren Höhlen sich Knochen von Beute und Aas stapeln. Auf der Rückfahrt beobachteten wir außerdem Zwergwale im Fjord.

Dazwischen filmten wir immer wieder Szenen aus dem Alltagsleben in Barentsburg. Zum Beispiel besuchten wir die Husky-Farm, wo rund 50 Schlittenhunde gehalten und trainiert werden. Die Einheimischen nennen den Ort „Center of hysteria“, weil die Hunde laut bellen, sobald man sich ihnen nähert. Am letzten Tag veranstalteten die Russen außerdem ein kleines Konzert auf einer Holzterrasse am Fjord. Anschließend gingen wir in den Roten Bären, wo ich meine erste russische Party erlebte. Der Polartag ist dabei tückisch. Weil es auch mitten in der Nacht noch taghell und sonnig ist, blieb ich versehentlich sehr lange wach, um mit den Russen Vodka und Bier zu trinken.

Der nächste Tag war zum Glück frei. Wir mussten nichts filmen, sondern lediglich mit einem kleinen Schiff nach Longyearbyen übersetzen. Die Abfahrt verschob sich von 14:00 Uhr auf Mitternacht, weil der Fjord aufgrund von Sturm unpassierbar war. Das kam mir entgegen, weil ich mich von den Anstrengungen der letzten Nacht erholen musste. Nachdem ich den Großteil des Tages im Bett verbracht hatte, fuhren wir mitten in der Nacht, aber bei Tageslicht, nach Longyearbyen. Gegen zwei erreichten wir unsere Unterkunft, die Coal Miners Cabins. Es handelt sich um ehemalige Schlafhäuser der Kohlearbeiter. Sieben Minen waren zu Hochzeiten in Betrieb, heute nur noch eine. Trotzdem ist auch dieser Ort optisch durch den Bergbau geprägt. Longyearbyen liegt in einem Tal zwischen steilen Bergen. Hoch oben kann man noch die verfallenen Eingänge der Minen erkennen. Entlang der Klippen und auch quer durch den Ort verlaufen alte Seilbahnen, von denen meist nur noch die hölzernen Tragemasten stehen. So wurde früher die Kohle bewegt. Gelegentlich fielen die schweren Eisenwaggons in die Tiefe. Deshalb wurden darunter keine Häuser gebaut. Ausnahme ist das Polizeirevier, über das eine der Kohleseilbahnen führt. Hier schlugen regelmäßig die schwer beladenen Gondeln ein, bis man das Haus mit einem stabilen Netz überspannte.

Abgesehen von diesen historischen Denkmälern ist der Ort hochmodern. Es gibt viele Restaurants, einen Supermarkt von der Größe eines Kauflandes, eine Bibliothek und zwei Kinos. In einem der Kinos drehten wir, weil unsere Protagonistin die Filmvorführerin ist.

Auch hier filmten wir eine Person, die im Tourismus tätig ist. Wir begleiteten eine Fahrt mit einem großen Katamaran, die durch den Fjord führte und die verlassene Minenstadt Grumant ansteuerte. Hier bauten die Russen bis 1965 Kohle ab. In dem Ort arbeiteten zu Spitzenzeiten über 1000 Menschen. Doch hier sitzt man noch viel schlimmer fest: vor dem Ort liegt das Meer, dahinter streckt sich direkt eine unüberwindbar steile Felswand in die Höhe. Auf der Fahrt begegneten wir auch einer Gruppe von Weißseitendelfinen. Es waren circa 10 Exemplare, rund drei Meter lang. Die Tiere machten sich einen Spaß daraus, vor dem Boot herzuschwimmen und aus dem Wasser zu springen.

Der Dreh in Longyearbyen nahm weniger Zeit in Anspruch. Er dient auch dazu, unsere Erfahrungen in Barentsburg einzuordnen und kommentieren zu lassen. Denn in Barentsburg befindet man sich in einer russischen Siedlung, verwaltet von einem staatlichen Unternehmen. In Longyearbyen wiederrum herrscht die europäische Perspektive. In der Stadt wohnen auch Ukrainer und Russen, die Barentsburg aufgrund von Meinungsverschiedenheiten verlassen haben. Zurück bleiben die Menschen, die mit der russischen Politik einverstanden sind oder sich nicht dazu äußern. Interessanterweise arbeiten in der Mine hauptsächlich Ukrainer, es sind jedoch fast ausschließlich Menschen aus dem Donbass und der Lugansk-Region, die die russischen Ansichten teilen. Es bleibt abzuwarten, wie sich der Ort entwickeln wird. Von über tausend Bewohnern in den Neunzigern bleiben heute nur rund 300. Die Mine ist auch nicht gewinnbringend. Nur 120.000 Tonnen Kohle werden jährlich gefördert, ein Viertel davon wird direkt vor Ort zur Energiegewinnung gebraucht. Doch der Ort ist ein bedeutender Standort für Russland in der Arktis. Von daher wird Barentsburg wohl weiter gehalten, auch wenn die Mine vielleicht nicht modernisiert wird, weil es hier nicht um Effektivität geht.

Kurz vor unserer Heimreise besuchte ich noch einen ganz besonderen Ort in Longyearbyen: den internationalen Saatgut-Tresor (Global Seed Vault). Tief im Permafrost lagern hier rund 2,25 Milliarden Samen, hauptsächlich von Nutzpflanzenarten wie Reis, Mais, Weizen, Kartoffel, Apfel, Maniok, Wasserbrotwurzel oder der Kokosnuss. Selbst Nordkorea hat hier einige Kisten mit Saatgut eingelagert. Sollte es auf der Welt zu katastrophalen Verwüstungen kommen, könnte man hier selbst nach Jahrzehnten das Saatgut hervorholen und neu beginnen. Es ist die größte der rund 1.400 Saatgut-Banken, die es weltweit gibt. Als Besucher kann man nicht hinein, trotzdem war es für mich ein besonderes Gefühl, nur vor der Tür dieses wichtigen Ortes zu stehen.

Nach nur einer Woche in der Arktis kehre ich zurück, mit vielen Eindrücken über Natur, Menschen und Politik am Rande der Welt. Nun werde ich den Film schneiden, der wahrscheinlich erst gegen Ende des Jahres als Teil der Serie ARTE Re: Wie wir ticken. Reportagen aus Europa ausgestrahlt wird.

Im Herbst stehen ein paar weitere berufliche Reisen an. Unter anderem werde ich zum vierten Mal in die Karibik zurückkehren. Im Dezember geht es wahrscheinlich nach Afrika.

Bis dahin liebe Grüße
Jonas

3 Antworten

  1. Papa sagt:

    Eine unwirtliche Gegend! Wer arbeitet da freiwillig? Gut, im Winter ist alles schön zugeschneit – dafür aber auch dunkel.
    Und nach deutschen Tierschutzrecht dürfte man SO die Hunde natürlich nicht halten.
    Obwohl, wenn ich mir die deutsche Standard-Schweinehaltung so ansehe… Bin jedenfalls gespannt auf den Film.

  2. Erwin sagt:

    Dank dir Jonas für den tollen Bericht und die Fotos. Konntest du im russischen Teil auch Drohnenaufnahmen machen?
    Bin dann mal auf die Doku gespannt. Das wird bestimmt auch wieder sehr interessant.

    • Jonas sagt:

      Vielen Dank, Erwin! Ja, auch in Barentsburg sind wir mit der Drohne geflogen. Haben allerdings in der Kürze der Zeit nur Videos gemacht, keine Fotos. Im Film siehst du die Stadt aber mehrmals aus der Luft.

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