Höhen und Tiefen in Nepal
von Jonas · 3. Mai 2025
Liebe Leserinnen und Leser,
endlich will ich auch von Nepal berichten. Ich war insgesamt fast acht Wochen vor Ort und habe unglaublich viel erlebt. Diese turbulente, abenteuerliche, jedoch sehr herausfordernde Zeit sinnvoll zusammenzufassen, muss ein kleines Kunststück sein. Doch ich versuche es.
Kurz gesagt: Ich flog nach Nepal, um für die ZDF-Serie „Abenteuer Auswandern“ zu drehen, für die ich 2023 schon einmal in Japan war. Noch nie war ich für ein Filmprojekt so lang unterwegs, wie ich es nun in Nepal sein würde. Die Drehzeit betrug über sechs Wochen, dazu eine Woche für die Recherche vor Ort. Neben einer klassischen 50-minütigen Fernsehdokumentation wollten wir hier aber noch mehrere episodische Kurzfilme drehen, was die Drehzeit eben entsprechend verlängerte.
Ich hatte Deutschland schon drei Wochen zuvor verlassen. Kurz war ich in Dubai, danach zwei Wochen in Indien. Dort hatte ich eine Hochzeit besucht, beobachtete die Totenverbrennung am heiligen Fluss Ganges und nahm am größten religiösen Fest der Erde teil. Es war eine spannende und turbulente Reise, von der ich hier bereits ausführlich berichtet habe. Von Kolkata aus flog ich über Neu-Delhi nach Kathmandu. Und kaum in der nepalesischen Hauptstadt eingetroffen, fühlte ich schon, wie ich wieder zur Ruhe kam. Die Stadt wirkte wie eine „harmlose Version“ von Indien. Der Verkehr ist zwar chaotisch, aber nicht ganz so verrückt wie im Nachbarland. Die Stadt ist wesentlich sauberer als die indischen Orte, die ich besuchte. Es riecht besser und die Luft war klarer als in Kolkata. Zwar sah ich auch hier wegen des Smogs die nahen Berge nicht, aber alle Häuser in 500 Meter Entfernung waren noch gut zu erkennen. Religiöse Tempel und auch Armut schienen mir auf den ersten Blick nicht so präsent. Es wirkte alles viel normaler. Mein Hotel befand sich im Zentrum der Stadt, unweit, aber außerhalb des Touristenviertels Thamel. Die folgenden Tage verbrachte ich mit Vorbereitungen und lernte dabei auch die Stadt besser kennen, die auf den zweiten Blick doch einige sehr schöne, historische Viertel versteckt hält.
Von den acht Personen, die ich zu filmen plante, leben rund die Hälfte in Kathmandu, sodass ich sie besuchen und kennenlernen konnte. Meist verabredeten wir uns in einem Restaurant oder Café und tauschten uns über ihr neues Leben in Nepal aus. Ich besuchte Drehorte, um zu schauen, wo und wie man filmen könnte. Am Abend schrieb ich meine Drehplanungen. Darin liste ich auf, welche Szenen (sprich Aktionen) ich drehen möchte und welchen inhaltlichen Schwerpunkt ich an dieser Stelle setzen werde. Beginnt der Film beispielsweise mit einer Person auf einem lokalen Markt, dann müssen wir sie an dieser Stelle den Zuschauern vorstellen. Also muss ich dort die Kennenlernfragen stellen. „Was hat dich nach Nepal gebracht?“, „Was gefällt dir an diesem Land?“, usw., auch wenn die Szene vielleicht erst am dritten Drehtag aufgezeichnet wird. Dafür braucht es also das Konzept. In dieser ersten Woche fuhr ich unzählige Strecken per Motorrad-Taxi durch die große Stadt. Die Zweiräder kann man per App bestellen. Für eine Strecke von rund 20 Minuten zahlt man weniger als einen Euro. Ich hatte mir einen Helm geliehen, weil ich direkt in der ersten Woche mehrere Unfälle beobachtete.
Nach sechs Tagen des Planens, Treffens, Umplanens und Aufschreibens kam der Kameramann Felix an. Wir sind auch in Berlin gut befreundet und ich freute mich auf den gemeinsamen Dreh.
Ab Drehbeginn herrschte Dauerstress. Sechs Tage pro Woche waren wir beschäftigt. Wir hatten eine interessante Auswahl an Protagonisten gefunden, die wir nun nacheinander für jeweils drei bis vier Tage besuchten. So filmten wir beispielsweise eine Person, die eine medizinische NGO betreibt, außerdem einen Bio-Landwirt, sowie einen Reiseplaner bzw. Touren-Scout. Weiterhin einen Deutschlehrer, einen Schulleiter, eine Bäckerin, eine junge Mutter und eine Airbnb-Betreiberin. Bei allen Personen filmten wir eine weite Auswahl ihrer Alltagsgestaltung. Von der Arbeit über das Familienleben bis zur Freizeitgestaltung geben wir tiefe Einblicke in das Auswanderer-Leben. Die Geschichten in ihrer vollen Tiefe werden wahrscheinlich im Oktober ausgestrahlt. Es war beeindruckend zu sehen, wie sich die Menschen in diesem Land individuelle Lebenswege aufgebaut haben. Denn Nepal ist kein einfaches Land, um auszuwandern. Allein der Erhalt des Visums ist herausfordernd. Das Land selbst ist instabil, chaotisch und wird von einer korrupten Regierung angeführt, die viel zu wenig für das Wohl der Menschen tut. Doch sie alle sind geblieben, weil die Menschen herzlich und einladend sind, die Natur märchenhaft und unberührt. Manche leben in einer Partnerschaft oder wollen vor Ort helfen.
Wir drehten nur wenige Tage in Kathmandu und brachen dann zu einer großen Reise durch das Land auf. Zuerst fuhren wir in den Süden, in das sogenannte Terai. Es ist ein fruchtbares Tiefland am Fuße der Berge. Die Hälfte der Nepalesen wohnt hier. Es herrscht ein beinahe tropisches Klima. Wir filmten in einem kleinen Bergdorf am Rande des Flachlandes. Hier lebt der Volksstamm der Chepang. Sie werden oft als der ärmste Bevölkerungsteil des Landes bezeichnet und leben isoliert in den Bergen. Viele Personen können nicht lesen oder schreiben. Erst seit circa zwei Generationen wenden sie sich vom halb-nomadischen Lebensstil einem sesshafteren Leben zu. Ein Protagonist unseres Films besucht die entlegenen Berge regelmäßig. Er leitet einen Konvoi mit mehreren Bussen, gefüllt mit Ärzten und medizinischem Equipment. Wir begleiteten eine solche Expedition. In einem kleinen Bergdorf errichteten sie ihr mobiles Krankenhaus in einer Schule. Einen Tag lang konnten sich die Menschen aus der Region kostenlos behandeln lassen. Für die Chepang ist dieser Besuch in der Regel die einzige Möglichkeit fachärztlicher Versorgung, denn zu Fuß sind die Krankenhäuser mehrere Tage entfernt. Außerdem kann sich hier fast niemand die teure Behandlung leisten. Vor Ort beobachteten wir die vertrauten ärztlichen Abläufe in rustikaler Ausführung. Die Optiker hatten ein Schild an die Wand genagelt, um die Sehkraft der Menschen zu testen. Die Zahnärztin brachte einen faltbaren Liegestuhl und dutzende Zangen zum Ziehen der Zähne. Es gab sogar eine Röntgenmaschine und eine Gynäkologin mit vollständiger Ausrüstung. Hunderte Menschen suchten das kleine Ärztezentrum an diesem Tag auf.
Vor Ort wurden wir Zeugen der harten Lebensrealität dieser abgeschiedenen Menschen. Eine Frau schleppte ihren Mann herbei, der kaum mehr ansprechbar war. Er hatte sich bereits vor einigen Wochen mit dem Ochsenpflug seinen Fuß verletzt. Unbehandelt hatte sich der Zustand der Wunde seither verschlechtert. Seine Zehen waren inzwischen schwarz. Der Fuß zog stetig einen kleinen Schwarm Fliegen mit sich und eine Blutvergiftung drohte den Mann umzubringen. Das Ärzteteam entschied schnell und fuhr den Mann im Geländewagen in das nächste Krankenhaus, wo die NGO auch die Behandlungskosten übernahm. Zwei Tage später wäre er wohl gestorben, teilten die Ärzte nach der OP mit, doch so konnten sein Leben und ein Teil seines Fußes gerettet werden.
Unser Beruf lässt uns kurzzeitig in sehr unterschiedliche Extreme eintauchen. Gestern noch beobachteten wir einen schwer verletzten Mann, für den die lebensnotwendige Hilfe gerade noch rechtzeitig kam. Und schon am nächsten Tag fanden wir uns in einem kleinen Holzboot wieder, das uns über einen breiten Fluss voller Krokodile trug und mitten im Regenwald aussetzte. Dort wartete ein Geländewagen auf uns. In den kommenden zehn Stunden filmten wir Affen, Pfaue, Bären, Krokodile und Nashörner. Dieser Kontrast zeigt das schnelle Tempo in unserem Beruf. Wir kommen irgendwo an und filmen teils tragische, zumindest aber bewegende Geschichten. Am nächsten Tag steht irgendetwas anderes auf dem Programm, und an den Vortag kann man kaum noch einen Gedanken verschwenden. Das ist okay, denn es dient dem Zweck, thematisch möglichst viele Dinge in kurzer Zeit abzudecken. Oft fragen mich Freunde, wie ich damit zurechtkomme, „grausame“ Dinge wie den schwarzen Fuß des sterbenden Mannes oder die Kreuzigung lebendiger Menschen auf den Philippinen zu sehen. Die Antwort ist, dass es mich schon am nächsten Tag nicht mehr beschäftigen kann, da wir bereits einer nächsten Aufgabe nachgehen. Aber es ist objektiv betrachtet natürlich ein seltsames Gebaren. Nun saßen wir also in einem kleinen Geländewagen und suchten mitten im dichten Wald nach wilden Tieren. Nach dem aufregenden Drehtag in der Krankenstation konnten wir hier ein wenig zur Ruhe kommen.
Nach diesen sehr unterschiedlichen und eindrucksvollen Tagen im Tiefland fuhren wir zurück in die Berge. Und zwar zuerst nach Pokhara. Das ist die siebtgrößte Stadt des Landes. Hier geht es ruhiger zu. Pokhara liegt an einem großen See, umgeben von hohen Bergen. Die sind aber fast immer vom Smog verdeckt. Die Luftverschmutzung ist während der trockenen Monate ein großes Problem in Nepal. Nach einer fast zehnstündigen Fahrt kamen wir spätabends in Pokhara an und besuchten noch am selben Abend den lokalen Rummel. Ich war der einzige unserer Gruppe, der sich auf das Riesenrad traute. Felix und unser nepalesischer Vor-Ort-Produzent JD hatten Bedenken bezüglich der Sicherheit. Und das aus gutem Grund. Das Riesenrad war an einigen Stellen durchgerostet. Es wurde von einer Art Traktor-Motor angetrieben und drehte sich so schnell, dass die Gondeln durch die Fliehkraft nach außen weggeschleudert wurden. Eine Umdrehung des Riesenrades dauerte exakt acht Sekunden! Acht Sekunden für eine Umdrehung – in Deutschland unvorstellbar. Zu Beginn des Schleudergangs hatte ich selbst kurz Angst um mein Leben, doch kann ich mich in solchen Situationen stets mit dem Wissen trösten, dass hier an den allermeisten Tagen nichts passiert und ich deshalb statistisch gesehen recht sicher bin. Danach besuchten wir noch die „Spielecke“ des Rummels und an einem Automaten gewann ich fünf Rupien! Das Spiel kostete 30 Rupien. Den kleinen Gewinn werde ich in Ehren halten und ich bin ehrlicherweise sehr stolz auf den Erfolg.
Der nächste Tag war offiziell ein freier Tag, doch nutzte ich ihn, um unseren nächsten Protagonisten zu besuchen. Er ist Bauer in einem winzigen Dorf in der Nähe von Pokhara und bisher hatten wir nur lose planen können, da sein Alltag auf der Farm von Wind und Wetter abhängt. Nun verbrachten wir einen halben Tag bei ihm, lernten uns etwas näher kennen und am Nachmittag saß ich am Computer für die weitere Drehvorbereitung. Ich arbeitete rund acht Stunden am freien Tag und das setzte sich leider auch in den kommenden Wochen fort. Der Dreh mit unserem Bauern verlief aber gut. Hier zeigt sich, dass Felix und ich ein eingespieltes Team sind. Denn bei einem Dreh auf einem Bauernhof muss man flexibel und ruhig vorgehen. Viele Dinge sind unplanbar, gerade mit Tieren und den Nachbarn aus dem Dorf, die jederzeit auftauchen können und vielleicht ein Anliegen haben. Auch war der Bauer selbst kaum mit Film oder Technik vertraut. Es ist wichtig, in einen solchen Drehtag keine Hektik reinzubringen, sondern so weit wie möglich als Dokumentarfilmteam zu beobachten, gleichzeitig aber natürlich den roten Faden nicht zu vergessen und inhaltlich vollständige Szenen zu produzieren. Einmal hatte sich der Hund des Bauern eine Vergiftung zugezogen und musste erst mit Kohletabletten gerettet werden, bevor wir drehten. An einem anderen Tag wollten wir eine Motorradfahrt filmen, hatten aber einen sehr vorsichtigen und langsamen Fahrer, der stets den Anschluss verlor. Zwischendurch regnete es. Aber trotzdem haben wir die Szenen schön einfangen können. Es ist eine Geschichte, auf die ich mich im Film besonders freue. Auch die nahe Stadt Pokhara lernten wir besser kennen, denn einen Drehtag verbrachten wir auch mit dem Aufnehmen von Stadtbildern.
Nach drei Tagen auf dem Bauernhof ging es mit einer ganz anderen Geschichte weiter. Ein Tourenplaner und Abenteurer, der die meiste Zeit in Pokhara lebt, wollte versuchen, eine alte Salz-Handelsroute im Annapurna-Nationalpark wiederzufinden, um dort kleine Wandergruppen entlangzuführen. Es handelt sich dabei um einen nicht mehr genutzten Bergpass, auf dem man früher zu Fuß oder per Maultier Salz über die riesigen, schroffen Gebirgszüge transportierte. Seit Jahrzehnten liegt die Strecke still. Da der Annapurna Circuit inzwischen touristisch überlaufen ist, suchen manche Tourenanbieter nach alternativen, völlig abgelegenen Routen. Die Wanderung dauert einige Tage und ist sehr herausfordernd. Wir wollten nur die erste Etappe filmen und nach einer Nacht in Zelten wieder umkehren. Ich war schon vor Drehbeginn ziemlich krank, wahrscheinlich eine Folge des „Local Chicken“, das uns vor einigen Tagen in einem kleinen Bergdorf serviert wurde. Am Tag unserer Reise in die Berge hatte ich bereits 39 Grad Fieber und musste mich mehrfach übergeben. Morgens um fünf Uhr begannen wir unsere Tour im Geländewagen von Pokhara nach Manang. Es sind rund 170 Kilometer. Jedoch beträgt die Reisezeit fast zwölf Stunden. Den 3.500 Meter hohen Ort erreicht man nur über eine kleine Piste, die sich durch ein enges Flusstal schlängelt. Dafür haben die Nepalesen in die steilen Hänge eine kleine Fahrspur gegraben bzw. gesprengt. Oft verläuft die Straße eng an einem mehrere hundert Meter tiefen Abhang, meist ohne jegliche Absperrung. Regelmäßig muss man dem Gegenverkehr ausweichen und zentimetergenau an der Kante entlang manövrieren. Oft stürzen Autos mitsamt ihren Insassen in das tiefe Tal, fast immer mit tödlichen Folgen. Unser Protagonist hatte uns erzählt, dass im Flussbett Autowracks liegen. Die wollten wir natürlich filmen. Doch es kam anders. Alle Autowracks waren verschwunden. Vor einiger Zeit hatte wohl ein Erdrutsch das gesamte Tal versperrt und einen natürlichen Stausee gebildet. Als der Erdschwall endlich nachgab, fegte die Flutwelle alle Autowracks weg und sprengte nebenbei einige Dörfer. Es muss hunderte Tote gegeben haben, so erzählte man uns. Stellenweise ragten die Überreste der geborstenen Häuser aus dem Boden, andere Dörfer jedoch waren an gleicher Stelle bereits wieder aufgebaut. Zum Nachmittag setzte ein Schneesturm ein, der bis zum Morgen wütete. Wir fuhren stundenlang, auch nach Einbruch der Dunkelheit, durch den Flockensturm am Abhang entlang. Immerhin, einer von zwei Scheibenwischern war funktionstüchtig, sodass der Fahrer wenigstens durch die halbe Frontscheibe sehen konnte. Ich bekam von alledem jedoch nur wenig mit, da ich mich vermehrt in Fieberträumen befand. Als wir ankamen und die letzten Meter zum Hotel liefen, war ich mir sicher, gleich umzufallen. Trotzdem führte ich tapfer ein letztes Interview und drehte mit Felix eine kleine Szene über die Ankunft in Manang. Morgen wollten die beiden Protagonisten ihre Suche nach der Salzroute beginnen. Ich legte mich ins Bett, bekam vom Hotelrestaurant eine riesige Thermoskanne mit Tee vorgesetzt und nahm ein paar Tabletten Paracetamol. Dann schlief ich ein. Das Zimmer war genau vier Grad warm, draußen war die Temperatur auf minus 20 Grad gefallen. Die Rohre der Toilettenspülung waren eingefroren, deshalb stellte man uns einen Eimer Wasser zum Spülen vors Zimmer. Auch der war gefroren. Ich musste die Eisschicht zerhacken, um die Toilette zu spülen. Nachts geriet ich ins Schwitzen, was bei einer solchen Raumtemperatur verwunderlich ist. Doch am nächsten Morgen ging es mir etwas besser. Ich entschied, den Dreh fortzusetzen, obwohl Felix mir angeboten hatte, alleine loszuziehen. Diese Möglichkeit gibt es natürlich im Krankheitsfall, doch ich fühlte mich gut genug, um wenigstens ein paar Stunden durchzuhalten. Ich weiß, dass dieser Abstecher in die Berge ein logistischer und finanzieller Aufwand war und ich wollte, dass die Szene so gut wie nur möglich wird.
Wir hatten unseren ursprünglichen Plan inzwischen verworfen, die beiden für einen ganzen Tag zu begleiten und mit ihnen in den Bergen zu zelten. Wir filmten die erste Wanderetappe in der Nähe des Ortes, kehrten dann aber ins Hotel zurück. Die beiden Bergsteiger folgten uns, denn für sie war durch den nächtlichen Schneefall das Risiko zu groß, unter einer Lawine begraben zu werden. Tagsüber kletterten die Temperaturen auf angenehme zehn Grad und so wurden die Schneedecken an den Berghängen schnell instabil.
Ich hielt bis 14 Uhr durch, dann wanderte ich alleine nach Manang zurück. Felix drehte den Rest der Szene. Ich hatte ihm einen Zettel mit den wichtigsten Fragen geschrieben, die ich zum Abschluss der Szene brauche. Auf dem Weg zum Hotel legte ich einige Pausen ein. Dort angekommen, war mein Fieber inzwischen auf 40 Grad gestiegen. Ich legte mich hin. Abends wurde ich mit Medizin versorgt, dann schlief ich weiter.
Tags darauf ging es mir endlich besser. Ich konnte fühlen, dass ich nun gesund werden würde. Wir fuhren nach Kathmandu, was fast 15 Stunden dauerte. Auch dieser Dreh beweist wieder das hohe Tempo einer solchen beruflichen Reise. Wir fahren mal eben für einen Drehtag ins Hochgebirge. Wir haben sogar Medikamente eingenommen, damit sich keine Höhenkrankheit einstellt. Normalerweise braucht man ein paar Tage Akklimatisierungszeit für eine solche Höhe. Da wir diese Zeit nicht haben, behalfen wir uns mit Diamox-Tabletten. Den schnellen Ausflug nach Manang hatten wir genutzt, um trotz Krankheit wunderschöne Aufnahmen zu machen. Auch hier wird nachher ein Höhepunkt des Films stattfinden. Dem fertigen Werk sieht man in der Regel nicht an, wie teuer erkämpft manche Aufnahmen sind.
Wir kamen am nächsten Tag gegen zwei Uhr nachts in Kathmandu an. An diesem drehfreien Tag hatte ich einiges auf der To-Do-Liste. Zuerst ließ ich mich ärztlich untersuchen und bekam eine Vielzahl an Tabletten, die ich in den nächsten Tagen einnehmen sollte. Tags darauf sollte es für uns zum Everest gehen, wo wir drei Tage lang wandern und drehen würden. Ich traf mich also nun nochmal mit dem Organisator und dem Guide der bevorstehenden Tour. Unser Plan sah vor, nach Lukla zu fliegen, von dort zum ersten Aussichtspunkt mit Blick zum Everest zu wandern, kurz zu filmen und zurückzulaufen. Es würden rund zehn Kilometer pro Strecke sein. Wir hatten drei bis vier Tage Zeit. Schon länger hegten wir Bedenken. Felix sagte mir immer wieder, er fürchte sich vor der „Everest-Nummer“. Und von mehreren Leuten hatte ich inzwischen gehört, dass der erste Everest-Viewpoint in letzter Zeit zugewuchert war und der Ausblick wenig spektakulär. Die weitaus bessere Sicht auf den Everest läge sechs Kilometer und 800 Höhenmeter weiter auf der Spitze eines Berges. Aber eine solche Wanderung würden wir unmöglich in so kurzer Zeit schaffen. Der Everest war mir persönlich so wichtig. Ein Nepal-Film ohne beeindruckenden Blick auf den gigantischen Bergriesen erschien mir völlig zwecklos. Warum dann überhaupt im höchsten Gebirge der Welt drehen? Lange grübelte ich mit Guide und Tour-Operator, wie man das lösen könnte. Es schien unmöglich. Nach einer Weile unterbrach ich die Überlegungen – und bestellte kurzerhand einen Helikopter. Das ist doch die Lösung! Wir fliegen nach Lukla, lassen uns dort von einem Hubschrauber abholen und direkt auf dem erwähnten Berg mit der tollen Aussicht absetzen. Die nächsten drei Tage müssten wir nur noch talwärts laufen und alles „rückwärts“, in umgekehrter Reihenfolge, filmen. Ein guter Plan. Zufrieden ging ich in den Feierabend.
Früh am Morgen brachen wir auf. Wir trafen den Protagonisten, einen Deutschlehrer, der regelmäßig im Himalaya-Gebirge wandert. Mit einer kleinen Propellermaschine flogen wir nach Lukla. Dort liegt der gefährlichste Flughafen der Welt, so heißt es. Auch unsere Drehversicherung für Unfallrettung und Bergung hatte ihren Preis verdoppelt, als sie hörten, dass wir nach Lukla fliegen wollten. Das Flugzeug war winzig. Jeder Platz war ein Fensterplatz, da es nur jeweils einen Sitz auf jeder Seite gab. Das Cockpit wurde von einem Vorhang abgetrennt. Das Flugzeug war im eigentlichen Sinne ein Gerippe, das mit dünnem Blech ummantelt ist. Wir flogen sehr tief. Teilweise befanden sich die Bergkämme nur 50 Meter unter uns. Man konnte die Menschen und selbst die Tiere erkennen. Nach 45 Minuten erreichten wir den berüchtigten Flughafen. Die Landbahn ist 400 Meter lang und schräg an den Berg gebaut. Durch die Steigung werden die Flugzeuge ausgebremst. Vor und hinter der Landebahn befinden sich jeweils Klippen. Es gibt also nur einen Landungsversuch. Aber auch hier hilft ein Blick in die Statistik. Fast alle Flieger landen erfolgreich, also gibt es fast keinen Grund zur Sorge, so sagte ich mir. Und tatsächlich war die Landung sehr sauber und problemlos.
Wir machten ein paar Aufnahmen in Lukla und warteten dann auf unseren Hubschrauber. Der holte uns pünktlich ab und brachte uns innerhalb von fünf Minuten zu einem Punkt, den die meisten Menschen erst nach zwei oder drei Wandertagen erreichen. Es ist ein Berggipfel oberhalb der Stadt Namche Bazaar, die man wohl als inoffizielle Sherpa-Hauptstadt bezeichnen könnte. Von hier sieht man den Everest und andere berühmte Berge wie den Lothse. Wir erreichten den Gipfel bei strahlendem Sonnenschein. Keine Wolke verdeckte den nahen Everest. Der Ausblick von hier aus ist wunderschön. Man steht auf einer Wiese, umgeben von kleinen Bäumen und bunten Gebetsfahnen. Und ringsumher ragen die riesigen Gipfel in den Himmel. Es ist nicht nur der Everest: Man ist von allen Seiten umgeben von den schroffen Felsen. Man fühlt sich, als würde man in einer tiefen Wanne stehen, so dicht stehen die gewaltigen Berge. Allerdings steht man ja selbst auch auf einem Berg, ist also zusätzlich von tiefen Schluchten umgeben. Eine bizarre Welt. Übrigens ist der Everest erstaunlich perfekt geformt, spitz und akkurat wie eine Pyramide. Die verkanteten Bergnachbarn wirken teilweise interessanter. Doch das Wissen, hier vor der höchsten Stelle des Planeten zu stehen, macht den Moment ganz besonders.

Für mich war es der schönste Tag auf der gesamten Nepal-Reise und die Aufnahmen sind noch viel besser, als ich es mir erträumt hatte. Nach einigen Stunden des Drehs zogen Nebelwolken herauf und wir machten uns an den Abstieg. Übernachten wollten wir in Namche Bazaar, rund zwei Stunden unterhalb unseres Drehortes. Die Stadt ist wirklich interessant. Sie ist an einen recht steilen Hang gebaut. Es sind beeindruckend hohe Häuser, die sich hier am Berg festklammern. Ein Hauch von Luxus ist spürbar. Unsere Betten waren elektrisch beheizt.
Die folgenden drei Tage waren für mich der Höhepunkt der ganzen Nepal-Reise. Wir wanderten von Namche Bazaar in Richtung Lukla und bestaunten die beeindruckende Natur. Der Weg führte durch Nadelwälder, vorbei an einem kristallklaren Fluss. Die hohen Gipfel waren dabei immer zum Greifen nah. Wir querten einige Hängebrücken, darunter auch die berühmte Hillary-Hängebrücke, die in schwindelerregender Höhe ein weites Flusstal überspannt. Kurz vor der Brücke passierten wir auch unseren ursprünglich geplanten Aussichtspunkt, das Ziel unserer Reise nach früherer Planung. Und tatsächlich, der Wald war hier so dicht, dass man den Everest kaum noch sah. Außerdem war der gigantische Berg in den Tagen nach unserer Hubschrauberreise meist in Wolken gehüllt. Ohne den spontanen Helikopter-Flug wäre der Everest-Dreh zumindest für mich eine Enttäuschung gewesen. Der kurze Flug hat den Film immens aufgewertet, was mich persönlich riesig freut. Denn so, wie wir es gedreht haben, wird die Everest-Wanderung wohl zu den absoluten Höhepunkten des Films zählen.
Wir befanden uns mitten im Gebiet der Sherpas. Übrigens ist „Sherpa“ die Bezeichnung für die hier lebende Volksgruppe. Es ist nicht, wie bei uns oft angenommen, ein Begriff für Bergführer und Träger. Andersherum sind aber die meisten Bergführer und Träger in der Region auch Sherpas. Auf dem kleinen Wanderweg kamen uns immer wieder Sherpas entgegen, die schwer beladen waren. Ein Mann hatte mehrere Säcke mit Schuhen auf dem Rücken, die er von Lukla nach Namche Bazaar schleppte. Das Gewicht seiner Fracht betrug dabei 90 kg. Für zwei Tage – 18 Kilometer und 700 Höhenmeter – erhält er rund 30 Euro. Andere trugen auch Türen für Hotels auf dem Rücken. Den Oberkörper im rechten Winkel zum Boden geknickt, balancierten sie die zwei-mal-drei Meter großen Holzplatten tagelang den steilen Weg bergauf, die Augen auf den Boden gerichtet. Auch Scharen von Maultieren kamen uns entgegen, beladen mit Zement und Gastanks.
Wir übernachteten im Örtchen Ghat. Von da liefen wir am nächsten Tag nach Lukla, von wo wir am nächsten Tag heimkehren wollten. Das Wetter war in den letzten Tagen merklich schlechter geworden. Teilweise hatte es geregnet und Nebel war unser ständiger Begleiter.
Stundenlang warteten wir auf einen Anruf vom Flughafen in Lukla. Die Flugzeuge aus Kathmandu waren nicht wie erwartet eingetroffen, da der Nebel inzwischen so dicht stand, dass man die Landebahn nicht sehen konnte. Die vier Flieger warteten also noch in Kathmandu. Erst gegen Mittag klarte es ein wenig auf und hintereinander flogen die kleinen Maschinen durch das Loch in der Wolkendecke. Die Touristen waren erleichtert, denn manchmal kann Lukla wetterbedingt tagelang nicht angeflogen werden. Dann stauen sich die Besucher, bis alle Hotels übervoll sind. Manchmal schlafen die Wanderer dann auf dem Boden der Souvenirshops.
Nun musste es schnell gehen. Die Ankömmlinge sprangen aus den fliegenden Blechhüllen, die Piloten tranken schnell eine Tasse heiß gekochtes Wasser (sehr nepalesisch) und wir kletterten durch die kleine Tür in den engen Rumpf. Die Maschine war in einem schlechteren Zustand als auf dem Hinweg. Die kleine Bitte-Anschnallen-Leuchte war aus der Wand gebrochen und hing müde an einem Kabel herunter. Das Cockpit war wieder mit einem Vorhang abgetrennt, der allerdings offenstand. Wir starteten. Die Maschine rollt dabei den Hang hinab und alle hoffen, dass sie rechtzeitig abhebt. Gelingt das nicht, weil beispielsweise die Fracht zu schwer ist, dann stürzt sie in das Tal. Das ist allerdings so tief, dass sich das Flugzeug im Sturz fängt und weiterfliegt. Der Flug war ein eindrückliches Erlebnis. Die Maschine schüttelte sich als wäre sie ein Auto auf einer nepalesischen Bergstraße. Plötzlich ein schrilles Piepen – und die Piloten zogen den Vorhang zu. Stürzen wir ab? Wahrscheinlich nicht, sagte ich mir, auch hier wieder auf die Statistik vertrauend. Ich drehte die Musik auf meinen Kopfhörern lauter und schaute aus dem Fenster. Die dünne Blechwand gab keinerlei Gefühl von Schutz. Mir schien, dass ein kräftiger Stoß oder nur ein starkes Erschüttern des Flugzeuges sie sofort zerreißen könnte. Der Flug dauerte fast zwei Stunden und der Pilot nahm einen riesigen Umweg auf sich, wohl um dem schlechten Wetter auszuweichen. Und tatsächlich wurde der Flug nach einer Stunde ruhiger und das Piepen setzte aus. Wir erreichten Kathmandu und trennten beinahe wortlos unsere Wege. Uns allen stand die Anspannung noch ins Gesicht geschrieben. Felix ging zu JD, unserem Produzenten, der ein langjähriger Freund von ihm ist. Unser Protagonist und Wanderfreund fuhr heim und ich begab mich ins Hotel. Der Guide war in Lukla geblieben und wartete auf die nächste Reisegruppe.
Wir hatten zwei freie Tage vor uns. Diese musste ich nutzen, um mich nochmal ausführlich mit den Protagonisten der kommenden Wochen abzusprechen. Denn inzwischen waren wir über drei Wochen lang unterwegs und vieles konnte sich geändert haben. Ich traf mich erneut mit einer Reihe von Leuten und besichtigte nochmal mehrere Drehorte. Denn ein Tempel, in dem wir filmen wollten, war seit kurzem in ein Baugerüst gehüllt. Ich musste also Ersatz finden. Ein wenig erholen konnte ich mich natürlich, weil ich morgens etwas länger schlief als sonst. An den meisten Drehtagen klingelte mein Wecker zwischen fünf und sechs Uhr.
Vor uns lagen nun noch genau 17 Drehtage. Der Dreh war noch nicht mal zur Hälfte geschafft. Doch die kommenden Wochen würden wir im Kathmandu-Tal drehen. Wir hatten einige Szenen in Kathmandu selbst, aber auch in den nahen Orten Lalitpur, Nagarkot und Bhaktapur geplant. Es würde nun also ruhiger zugehen.
Die meisten Auswanderer leben in Kathmandu oder den erwähnten nahen Städten, mit denen Kathmandu quasi verschmilzt. Hier findet man eine vergleichsweise gute Infrastruktur vor, es gibt Krankenhäuser und ein recht breites Angebot an Waren. Strom und Leitungswasser (nicht trinkbar) sind in die Häuser verlegt. Sogar westlich anmutende Coffee-Shops und die Outlets führender Modemarken haben sich angesiedelt. Ein neu gebautes Marriott-Hotel ragt aus der sonst eher flachen Stadt empor.
Es folgten Drehtage, die sich dem Alltag der Auswanderer widmen. Wir filmten sie bei ihrer Arbeit beispielsweise in einer Bäckerei, in einer deutschen Schule oder einer Textil-Manufaktur – sowie bei etwaigem ehrenamtlichem Engagement, zum Beispiel in einem Kinderheim. Wir begleiteten Ausflüge in Parks oder mit der Seilbahn in die nahen Berge. Eine Person betreibt ein Airbnb inmitten idyllischer Felder nahe dem historischen Stadtzentrum von Bhaktapur. Außerdem filmten wir eine Radtour durch die Berge oder gemütliche Abende mit Freunden und Verwandten. Die Geschichten möchte ich dem Film nicht vorwegnehmen. Durch die Drehs lernte ich die Metropolregion Kathmandu sehr ausführlich kennen. Das schätze ich so an diesem Beruf. Durch das Filmen von Menschen, die bereits Jahre in anderen Ländern verbracht haben, kann man direkt tief eintauchen. Als Tourist würde ich eine solch authentische Nähe zu einem Land wahrscheinlich nicht so schnell aufbauen.
Ein Höhepunkt des Drehs war für mich das Holi-Fest. In Kathmandu wurde es am 13. März gefeiert, einen Tag früher als im Terai oder im benachbarten Indien. Wir waren zu einer Gartenparty eingeladen, die eine deutsche Auswandererin jährlich veranstaltet. Dort ging es fröhlich, aber gesittet zu. Während der Mittagszeit brachen Felix und ich in das Zentrum von Kathmandu auf, denn wir wollten filmen, wie die Menschenmassen versammelter Einheimischer das farbenfrohe Fest feierten. Das Holi-Fest hat dabei auch einen wichtigen, religiösen Hintergrund. Es erinnert an die Rettung des gottgeweihten Prahlad durch den hinduistischen Gott Vishnu vor der bösen Dämonin Holi. Es steht für den Sieg des Guten über das Böse, aber wird gleichzeitig als Frühlingsfest betrachtet. Der warme Frühling kehrt ein und der harte, kalte Winter wird vergessen. An öffentlichen Plätzen wie dem Kathmandu Durbar Square versammeln sich tausende Menschen. Am Rande und in Seitenstraßen gibt es kleine Bühnen mit musikalischem Programm, doch Hauptteil der Festivitäten ist das gegenseitige Bewerfen bzw. Einreiben mit Farbpulver. Besonders wir als Ausländer mit großer Kamera bekamen sehr viel ab. Im Sekundentakt flogen uns Hände voller Farbe ins Gesicht. „Happy Holi“ schallte es uns entgegen, während uns Menschen Farbschicht um Farbschicht aufs Gesicht schmierten. Den Unterschied zwischen uns und den anderen Feiernden sieht man deutlich. Nach einigen Minuten schon sahen wir aus wie bunte Bergarbeiter, denen der Staub bis tief in die Ohren kriecht. Fast zwei Stunden lang filmten wir im Getümmel, wurden neben Farbe auch mit Wasserbomben beworfen. Eine solche Drehsituation erfordert allerhöchste Konzentration. Felix muss sich genau auf die Kameraführung konzentrieren, während ich das Geschehen allgemein überblicke. Teilweise führte ich ihn rückwärts durch die drängelnden Massen. Manchmal versuchte ich ihn abzuschirmen oder mich gegen ihn zu stemmen, damit er nicht von der Menge umgedrückt wird und sich zwischen tausenden Füßen verliert.
Gegen Ende der Drehzeit fehlte uns immer mehr die Kraft. Felix wurde zum zweiten Mal krank. Auch ich fühlte mich zunehmend erschöpft, blieb aber nach meiner Fiebererkrankung zum Glück gesund. Wir drehten weiter wie geplant, doch versuchten die Drehtage nun etwas schlanker zu halten. So kamen wir irgendwie durch. In der letzten Woche hatte ich dann sogar zwei freie Tage. Und zum ersten Mal seit Drehbeginn hatte ich wirklich frei. Die wenigen verbleibenden Drehtage waren bereits vorbereitet. So konnte ich mir ein kleines Freizeit-Programm zusammenstellen. Ich nutzte die Zeit, um mich mit ein paar Menschen zu treffen, die mir inzwischen ans Herz gewachsen waren. Felix und ich schlugen uns außerdem eine lange Nacht im “Lord Of The Drinks” um die Ohren. Es ist der berühmteste Nachtclub im Land. Regelmäßig landet er in den Top 50 Nachtclubs der Welt, gekürt vom britischen DJ Magazine. Doch an diesem Samstag-Abend war die Stimmung eher ruhig. Allerdings ist ein Samstag in Nepal kein guter „Party-Abend“, da bereits am Sonntagmorgen die nepalesische Arbeitswoche beginnt.
Ich besuchte am nächsten Tag den Pashupatinath Tempel. Es ist ein wichtiges Shiva Heiligtum am heiligen Bagmati Fluss im Zentrum der Stadt. Das Tempel-Areal ist riesig. An beiden Ufern des Flusses stehen die weitläufigen Gebäude. Tausende Besucher, überwiegend Hindus, strömen durch die Anlage. Am Bagmati Fluss selbst wird die Verbrennung der Toten praktiziert, ähnlich den Burning Ghats in Varanasi in Indien, die ich erst vor wenigen Wochen besuchte. Ich verbrachte mehrere Stunden am Ufer und beobachtete die Leichen, in bunte Decken gehüllt, die am Flussufer von ihrer Familie verabschiedet wurden. Die Toten werden zuerst mit Wasser aus dem Fluss bespritzt oder man wäscht ihre Füße. Danach verbrennt man die Körper auf einer Art Scheiterhaufen. Dabei gibt es unterschiedliche Verbrennungsstätten für höhere bzw. niedrigere Kasten. Die Asche wird dem Fluss beigefügt. Der Fluss transportiert außerdem große Mengen von Müll. Auf einer Sandbank lagen Kühe, fernab grüner Wiesen – ein bizarrer Anblick. Die Anlage ist außerdem Wohnraum hunderter Affen, die den Müll am Flussufer sammeln bzw. von den Menschen gefüttert werden. Mitgebrachtes Essen wird teilweise auch von den kleinen Kletterern gestohlen. Sie haben sich teils aggressiv bekämpft und brachten eine gewisse Unruhe in die ohnehin chaotische Tempelanlage.
Am Abend versammelten sich mehrere Tausend Menschen auf den Stufen am Ufer des Bagmati. Ab 18 Uhr wird hier die Aarti Zeremonie durchgeführt. Das Aarti ist ein hinduistisches Ritual, bei dem das Licht von Kerzen als Opfer für Gottheiten gegeben wird. Hier sind es drei Priester, die zuerst einen Topf mit Rauch, danach die Kerzen auf der typischen Kerzenpyramide minutenlang rhythmisch zur Musik im Kreis schwenken. Die Menschen klatschen teilweise im Takt der nepalesischen Klänge der Musikgruppe und sprechen bzw. singen bestimmte Passagen mit. Alle hier schienen mit dem Ablauf des Aarti bestens vertraut zu sein. Ich natürlich nicht. In Indien hatten wir die Zeremonie am Ganges nur von Weitem beobachtet.
Ich verließ den Tempel per Motorrad-Taxi. Meine Kleidung roch inzwischen streng nach Rauch, da ich rund ein halbes Dutzend Verbrennungen beobachtet hatte. Die letzten Drehtage vergingen ganz schnell. Wir drehten auch noch am Tag vor unserem Heimflug. Am Abend hatte uns JD eine schöne kleine Abschiedsfeier organisiert. Wir waren inzwischen als Team wirklich zusammengewachsen. Traditionell bekamen wir ein paar Schals umgehängt, die für die guten Reisewünsche unserer zurückbleibenden Freunde stehen.
Am Donnerstagmorgen waren wir dann schon auf dem Weg zum Flughafen. Die Koffer vollgestopft, standen wir am Schalter und trafen direkt auf deutsche Touristen. Der kurze Smalltalk wandelte sich schnell in eine kleine Diskussion. Die beiden waren beinahe verärgert, dass wir von den „Zwangsgebühren“ finanziert durch die Welt reisen. Und überhaupt, die Medien seien ja heutzutage alle nicht mehr neutral. Außerdem mache der Staat ja, was er will. Und der Radweg in ihrem neu gebauten Wohngebiet ließe auch auf sich warten. In Nepal stattdessen hätten sie auf ihrer Reise in irgendeiner Innenstadt einen neuen Radweg gesehen, hier ginge es ja also auch. Solche Gespräche führen wir tatsächlich oft, aber in der Regel bleibt es dabei, dass wir uns die Sorgen und Unzufriedenheiten anhören und kurz kommentieren, sich dann aber die Wege ohne eine Einigung trennen. Was soll ich schon dazu sagen. Ehrlicherweise macht es mich auch traurig. Wir hatten intensive Wochen hinter uns, sind teilweise über unsere Grenzen gegangen und werden dann von Menschen beurteilt, die überhaupt nichts über unsere Arbeit wissen. Wir verschwanden zügig durch die Sicherheitskontrolle und erwarteten den Flieger, der die nepalesische Hauptstadt mit 90 Minuten Verspätung verlies. Nach acht Stunden erreichten wir Istanbul, zwei Stunden später flogen wir gen Berlin. Dort kamen wir pünktlich an. Mit dem Taxi ging es nach Hause. Es ist ein surreales Gefühl, nach fast drei Monaten die eigene Haustür aufzuschließen und die lange verlassene Wohnung wiederzusehen. Sofort fielen mir einige Dinge auf, die ich hier gern ändern würde, so als würde ich ein mir fremdes Hotelzimmer gerade zum ersten Mal betreten. Doch nach wenigen Minuten hatte ich mich wieder eingelebt.
Über eine Woche lang stand ich regelrecht unter Strom. Ich arbeitete tagelang an meiner Wohnung, baute mein Schlafzimmer um und dekorierte neu. Ich traf mich mit Freuden, ging in die Bar und zu einer Kunstausstellung, besuchte zwei Geburtstagsfeiern. Erst nach einigen Tagen wurde ich müder und ruhiger, fühlte mich erschöpft und beinahe ausgebrannt. Nach zwei Wochen Pause begann ich dann mit der Vorbereitung für den Schnitt, der nun ansteht.
Dieser Dreh hat in mir einige Denkprozesse ausgelöst. Ich muss sagen, dass mir diese Reise eher eine Last als eine Freude war. Zwar schätze ich die Abenteuer sehr und ich bin dankbar für die tollen Menschen, mit denen wir drehen durften. Den Everest mit eigenen Augen zu sehen, der Flug zum gefährlichsten Flughafen der Welt, das Holi-Fest – das alles waren lang gehegte Träume von mir und ich freue mich, sie erfüllt zu wissen. Solche Erlebnisse möchte ich auch in Zukunft nicht missen. Doch die Arbeitslast, die fehlenden Erholungszeiten und die Herausforderungen, die ein chaotisches Land wie Nepal mit sich bringen, häuften sich auf. Der Dreh hat Kraft gekostet. Und zwar so viel, das mir klar ist, dass so eine Erfahrung eher die Ausnahme bleiben muss. Nun überlege ich also, wie ich solche Projekte in Zukunft gestalten könnte. Ich finde den Beruf weiterhin passend für mich, eben weil mir die Abenteuer und das Erkunden fremder Länder so wichtig sind. Nur möchte ich mir vornehmen, meine zukünftigen Projekte etwas ruhiger anzugehen. Auf die kommenden Reisen und Eindrücke freue ich mich schon jetzt!
Wie es mir in Zukunft ergeht, lest ihr wie immer hier.
Und damit liebe Grüße und bis bald,
Jonas
Hi, Jonas
Du hast mit diesem unter die Haut gehenden Reisebericht wieder einmal bewiesen, was für ein toller Bursche du bist.
Ich bin stolz, dich als Enkel zu haben.
Hallo Jonas, ich habe endlich deinen neuen Beitrag gelesen. Vielen Dank dafür, da hast du ja wieder keine Mühe gescheut.
Alles war wieder sehr informativ mit tollen Bildern. Sehr beeindruckend was ihr in der relativ kurzen Zeit alles gemacht habt.
Da kann ich gut verstehen wenn es irgendwann zu viel wird. Ich würde an deiner Stelle auch versuchen in Zukunft mehr Ruhe reinzubekommen.
Bin jedenfalls schon sehr gespannt auf die Doku, wie es den Auswanderern so geht…
Dann erhole dich erstmal von den Abenteuern, bis bald mal wieder.